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40 Jahre BVG

Wie aus dem handlichen Gesetz ein Moloch wurde

Dieses Jahr kamen die ersten Versicherten in Rente, die in der beruflichen Vorsorge gemäss BVG die vollen 40 Beitragsjahre erreicht haben. Ein Blick zurück auf 40 Jahre berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge, von Geburtswehen, Meilensteinen und gesetzgeberischen Sünden.

17.10.2025
Lesezeit: 6 min

Es war von Anfang an eine schwere Geburt des BVG (siehe Kasten). Die Vorlage wurde im Parlament heftig diskutiert und drohte zu scheitern.

Durchbruch dank Beitragsprimat

Da setzten sich einige wenige National- und Ständeräte zusammen und überarbeiteten mit Praktikern aus der beruflichen Vorsorge die Vorlage. Berechtigter Einwand war, dass die Finanzierung ursprünglich auf dem Leistungsprimat beruhte, was sich in gewissen Bestimmungen noch immer erahnen lässt. Die Durchführung des Leistungsprimats wäre speziell für die vielen Kleingewerbetreibenden viel zu anspruchsvoll und auch zu teuer gewesen (Lohnerhöhungen müssen rückwirkend ab Versicherungsbeginn eingekauft werden). So wurde das Gesetz auf das Beitragsprimat umgestellt und bestand nach einigen Abgleichungen zwischen National- und Ständerat die Schlussabstimmung in der Sommersession 1982. Es gab kein Referendum und damit keine Volksabstimmung.

Die Geburt der 2. Säule

1972 ist das Drei-Säulen-Konzept der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge in der Bundesverfassung verankert worden. Darin bildet die berufliche Vorsorge die 2. Säule, die zusammen mit den Leistungen der 1. Säule die Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung in angemessener Weise sichert (60% des letzten Einkommens als Ziel). Erst 10 Jahre später wurde das BVG am 25. Juni 1982 von den eidg. Räten gutgeheissen und per 1. Januar 1985 in Kraft gesetzt.

Es ist aber nicht so, dass es zuvor keine Regelungen über die berufliche Vorsorge gegeben hätte. Schon das Fabrikgesetz von 1914 erhielt entsprechende Bestimmungen, die 1958 vom ZGB (Zivilgesetzbuch) abgelöst wurden. 1936 kamen Bestimmungen im OR (Obligationenrecht) dazu. Das BVG als Rahmengesetz bildet die Mindestforderungen ab (Obligatorium). Besser geht immer: Überobligatorium; im Laufe der Zeit wurden auch Bestimmungen des Rahmengesetzes (BVG) für den überobligatorischen Bereich für anwendbar erklärt.

Die Paragraphenflut

Heute sind es über hundert; von den vielen Verordnungsbestimmungen ganz zu schweigen. Die Vollzugsverordnung zum BVG (BVV2) ist ebenfalls 1985 in Kraft getreten. Die Bestimmungen über die steuerliche Abzugsberechtigung für Beiträge an anerkannte Vorsorgeformen (BVV 3) folgten per 1. Januar 1987.

Im BVG von 1985 stand, dass dieses erstmals zehn Jahre nach Inkrafttreten revidiert werden müsse. Bis dem so war, dauerte es doppelt so lange. 1995 ist aber gerade für Arbeitnehmende ein Meilenstein in der beruflichen Vorsorge: Mit dem dann in Kraft getretenen Freizügigkeitsgesetz (FZG) fielen die goldenen Fesseln. Wer von einem Arbeitgeber zum anderen und damit in eine andere Pensionskasse wechseln wollte, konnte neu nicht nur die eigenen entrichteten Beiträge mitnehmen, sondern auch jene des Arbeitgebers; konkret das ganze Altersguthaben (drei Berechnungen, das für die versicherte Person beste Resultat gilt).

Die erste Revision glückt 2003 in drei Etappen

Fast zehn Jahre später wurde die 1. BVG-Revision Tatsache: Am 3. Oktober 2003 wurde diese gutgeheissen. Sie trat in drei Etappen in Kraft: als Erstes per 1. April 2004 die Transparenzbestimmungen. Auf 1. Januar 2005 trat die 2. Etappe, der Leistungsteil, in Kraft. Dabei wurde der Umwandlungssatz für Versicherte, die mit Erreichen des AHV-Rentenalters ausscheiden, schrittweise von 7.2 auf 6.8% gesenkt und (leider) im Gesetz verankert. Dadurch wird für die BVG-Normversicherung die Anpassung an die wirtschaftliche Realität nicht verunmöglicht, jedoch stark erschwert. Gleichzeitig erhielt der Bundesrat die Kompetenz, den Mindestzinssatz auf den Altersguthaben der Versicherten jedes Kalenderjahrs vorschüssig festzulegen. Bisher hat er 4% betragen. Bis in die 1990er-Jahre entsprach die Verzinsung dem Grundsatz, dass der Mindestzins die durchschnittliche Teuerung ausgleichen soll. Mit sinkender Teuerung wurden die Alterskonten überkompensiert und so aufgebläht.

Der Umfang sowie die Komplexität – vor allem für den Praktiker – erhöhten sich über die Jahre markant. Dagegen wurde der Kollektivgedanke der beruflichen Vorsorge vermehrt durch individuelle Bestimmungen relativiert.

Auf Januar 2006 wurde die 3. Etappe der Revision mit den steuerrechtlichen Aspekten umgesetzt. Nun wurde auch ein Einkauf in die berufliche Vorsorge bis zur Höhe der reglementarischen Leistungen möglich.

Ab 2011 brachte die Strukturreform Neuerungen. So können Erwerbstätige im Rentenalter die berufliche Vorsorge fortsetzen, bis sie 70-jährig werden. Weiter wurden die Bestimmungen zur Governance und Transparenz verfeinert. Die Aufsicht über die Pensionskassen wurde neu definiert mit regionaler Direktaufsicht (wozu sich die Kantone auch zu Konkordaten zusammenschliessen können) und unabhängiger Oberaufsichtskommission (OAK BV).

Auf den 1. Juli 2014 ergänzte zudem das Fusionsgesetz (Verfahren im Fall einer Teilliquidation) die Pensionskassengesetzgebung.

Weitere für die 2. Säule prägende Einflüsse

Dies ist ein Teil der Geschichte. Folgen für die Ausgestaltung des BVG und des FZG hatten auch Revisionen von anderen Bundesgesetzen: Bestimmungen über das Scheidungsrecht im Zivilgesetzbuch (ZGB), die Anpassung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG), mit der die obligatorische BVG-Versicherung von ALV-Taggeldern über einer bestimmten Höhe via Auffangeinrichtung eingeführt wurde. In jüngerer Zeit zu erwähnen sind die Revisionen des Ergänzungsleistungsgesetzes (ELG) per 1. Januar 2021 und jene der AHV per 1. Januar 2024.

Mit der ELG-Revision wurde die Weiterversicherung in der bisherigen Pensionskasse ermöglicht, dies für Versicherte ab Alter 58, die durch Kündigung des Arbeitgebers die Arbeitsstelle verlieren. Mit der Revision der AHV-Gesetzgebung wurde das neue Referenzalter 65 für beide Geschlechter auch im BVG eingeführt sowie – was die Pensionskassen bisher nur auf freiwilliger Basis reglementieren konnten – der Vorbezug, der Aufschub und die Teilpensionierung gesetzlich als obligatorische Bestimmungen verankert.

Auch die letzten Revisionen des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) brachten Änderungen für die Invalidenleistungen im BVG, so vor allem per 1. Januar 2021 die feinere Abstufung des Invaliditätsgrads mit diesbezüglichen Übergangsfristen. Sie wurden auch für die berufliche Vorsorge für anwendbar erklärt.

Ab 1. Januar 2022 gelten zur Sicherstellung von Alimenteverpflichtungen neue Meldepflichten für die Fachstellen der Inkassohilfe und für die Vorsorge- und Freizügigkeitseinrichtungen. Nach entsprechender Mitteilung können die Institutionen der beruflichen Vorsorge die entsprechende Leistung nicht mehr mit befreiender Wirkung an die versicherte Person erbringen.

Chronologie 40Jahrebvg DE Web

Chronologie

Der Einfluss der Richter

Höchstrichterliche Urteile waren ebenfalls bedeutend für die Ausgestaltung des BVG. Dabei wurden unklare bzw. in der Anwendung zunächst unsichere Sachverhalte mit entsprechenden Entscheiden korrigiert bzw. klargestellt. Zu denken ist hier speziell an die Richtigstellung, dass die BVG-Risikoleistungen nicht nur infolge Krankheit, sondern auch bei Unfall zu erbringen sind. Zudem wurden für die Beurteilung von Invaliditätsfällen spezifische Prinzipien verankert, die nun allumfassend gelten (z.B. zeitlicher und sachlicher Konnex).

In Anbetracht der zahlreichen Änderungen und Anpassungen in der Gesetzgebung und Rechtsprechung lässt sich zweierlei feststellen: Der Umfang sowie die Komplexität – vor allem für den Praktiker – erhöhten sich über die Jahre markant. Dagegen wurde der Kollektivgedanke der beruflichen Vorsorge vermehrt durch individuelle Bestimmungen relativiert. Dies zeigt sich vor allem auf folgenden Gebieten: Entscheidungsfreiheit in der Wahl der Leistungsform, im Leistungsumfang (Teilpensionierung) sowie betreffend den Zeitpunkt des Leistungsbezugs, die Barauszahlung der Freizügigkeitsleistung, spezifische Möglichkeiten in der Wohneigentumsförderung, die Aufteilung der Altersguthaben im Scheidungsfall, Entscheidungsbefugnis im Anlagebereich (1e-Vorsorgepläne).

Das Flickwerk im Reformstau

Betrachtet man die Revision anderer Bundesgesetze sowie die Rechtsprechung, wird offensichtlich, wie herausfordernd bzw. schwierig es für die Verantwortlichen der Pensionskassen war, jeweils dem entsprechenden Anpassungsbedarf gerecht zu werden; dies sowohl in inhaltlicher als auch in zeitlicher Hinsicht. Im Vordergrund stand die Frage, ob Bestimmungen von Gesetzes wegen umgesetzt werden müssen oder ob die Anpassung fakultativ sei. Hier gibt die nicht immer leicht zu beantwortende Frage Aufschluss darüber, ob es sich um zwingende (obligatorische) oder fakultative Normen (überobligatorisch) handelt.

Eine besondere Herausforderung für die Akteure in der 2. Säule ergab sich aufgrund der Finanzkrise ab 2007, insbesondere deswegen, weil die Deckungsgrade der Pensionskassen abrupt erodierten, ja abstürzten. In diesen Zeiten waren nicht nur die Verantwortlichen der Pensionskassen gefordert bzw. aufgerufen, ihre Verantwortung wahrzunehmen, sondern auch die Revisionsstellen, die PK-Experten sowie die Aufsichtsbehörden. Zudem sahen sich Versicherte und Arbeitgeber oft mit Sanierungsbeiträgen konfrontiert.

Anpassungsbedarf für die Pensionskassen ergab sich vor allem bezüglich der erforderlichen Dokumente; im Vordergrund standen dabei die PK-Reglemente, in erster Linie das Leistungsreglement. Zu Beginn des BVG war dies das einzige Reglement, über das jede Pensionskasse verfügen musste. Heute muss jede Vorsorgeeinrichtung zusätzlich noch Reglemente besitzen über die Anlagen, die Organisation, die Teilliquidation und die Rückstellungen. Weiter müssen für viele Geschäftsfälle (z.B. Einkäufe, Wohneigentumsförderung, Austritt, Pensionierung) Formulare und Merkblätter verfasst werden.

Ein Perpetuum mobile

Selbstverständlich muss auch technisch gewährleistet sein, dass die entsprechenden Mutationen rechtskonform elektronisch bearbeitet werden können. Unerlässlich dafür ist ein zuverlässiges elektronisches Verwaltungssystem.

Weil die Komplexität der beruflichen Vorsorge – wie gesehen – seit Beginn des BVG stetig höher geworden ist, müssen die entsprechenden Organe, insbesondere die Mitglieder der Geschäftsführung und des Stiftungsrats, sich permanent weiterbilden, um den grossen Herausforderungen gerecht zu werden.

Last, but not least ist klar, dass mit dem Alter auch die Kosten für die Durchführung der beruflichen Vorsorge konstant gestiegen sind.

Das einst handliche Gesetz wurde mit den Jahren durch die vielen neuen Bestimmungen zu einem Moloch. Weitere Reformen der Altersvorsorge (realistischer Umwandlungssatz usw.) sind bis anhin an der Urne gescheitert.

Take aways

  • Schon die Geburt des BVG dauerte lang und war schwierig: Nach jahrzehntelangen Diskussionen trat das Gesetz über die berufliche Vorsorge am 1. Januar 1985 in Kraft.
  • 1995 kam das Freizügigkeitsgesetz (FGZ) dazu. Dieses ermöglicht, auch bei einem Arbeitgeberwechsel das Pensionskassenguthaben mitzunehmen,
  • Aus einem schlanken Gesetz mit 40 Artikeln ist mittlerweile ein Flickwerk mit mehr als 100 Bestimmungen entstanden. Dazu beigetragen haben nebst den Gesetzgebern auch Gerichte.