Das Obligatorium macht die Schweiz robust | Schweizer Personalvorsorge
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Interview

Das Obligatorium macht die Schweiz robust

Matti Leppälä, der oberste Pensionskassenlobbyist Europas, kämpft tapfer gegen die Ignoranz der Regulatoren. Unermüdlich setzt er sich für mehr Verständnis der Anliegen der 2. Säule ein.

17.12.2025
Lesezeit: 7 min

Matti Leppälä, gibt es gute Beispiele für Reformen in Europa?

Es sind sehr viele Reformen in Gang. Fast jedes Land geht derzeit durch verschiedene Reformen. Einerseits wird, um die Versicherungsdeckung auszuweiten, die automatische Anmeldung eingeführt, wie es die Schweiz bereits kennt mit ihrer obligatorischen 2. Säule. Irland hat Anfang Jahr ein Obligatorium eingeführt, am Ende eines langen Prozesses. Das wird die Deckung der beruflichen Vorsorge in Irland verbessern, so wie das 2012 im Vereinigten Königreich passiert ist. Dort haben sie durch das Obligatorium unterdessen rund 12 Millionen mehr Versicherte.

Sind mit einem Obligatorium alle Probleme gelöst?

Nein, natürlich bleibt die Frage, ob das Beitragsniveau hoch genug ist. Es braucht nicht nur eine gute Abdeckung, sondern auch ausreichende Beiträge, um ausreichende Renten zu erhalten. Solche Ideen werden Teil sein des grossen Pensionspakets der Europäischen Kommission, das am 19. November veröffentlicht wurde. Das Paket enthält auch Empfehlungen für die Mitgliedstaaten zur automatischen Anmeldung, was in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegt. Europa kann nicht direkt ein Obligatorium einführen, aber Europa wird die Staaten in diese Richtung drängen.



 

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Matti Leppälä ist Generalsekretär von «Pensions Europe», des Dachverbands der Europäischen Pensionskassen. (Photo: HUGO AMARAL/ECO)

Begrüssen Sie die Stossrichtung grundsätzlich?

Ja, es gibt aber auch eine Reihe von weiteren guten Reformwegen, wenn man das ganze Vorsorgesystem betrachtet. Zum Bespiel Anpassungen des Rentenalters. Eine Herausforderung ist der Umgang mit Teilzeitbeschäftigten, wozu es ja auch in der Schweiz eine grosse Debatte gibt. Die gleichen Probleme mit der Struktur der Arbeitswelt sehen wir in allen Ländern. Und es gibt sehr viele Reformen, die diese Probleme angehen.

Was sind generell die Erfolgsfaktoren einer Reform?

Eine erfolgreiche Reform muss langfristig sein und einvernehmlich. In vielen Ländern unterstützen die politischen Zyklen aber keine solchen langfristig orientierten Lösungen. Da besteht die Herausforderung darin, den Weg dorthin zu zeichnen. Es hilft, wenn Sie ein starkes Modell der Sozialpartnerschaft haben. Mit starken Gewerkschaften und starken Arbeitgeberverbände ist es eher möglich, den politischen Zyklus zu meistern.

Was passiert in Ländern ohne starke Sozialpartnerschaft?

Wir haben in vielen osteuropäischen Ländern beobachtet, dass Reformen wieder rückgängig gemacht wurden. Sie kehrten um, nachdem sie zunächst die Pensionsfinanzierung eingeführt hatten. Dann entstanden daraus offene Pensionsfonds, aus denen die Menschen ihr Vermögen entnehmen konnten, oder es wurden Pensionsfondsvermögen verstaatlicht. Es ist sehr herausfordernd, wenn die Menschen zu sparen beginnen und dann das Vertrauen ins System verlieren, weil ihnen der Staat die Ersparnisse wieder wegnimmt oder verstaatlicht.

Wieso passiert so etwas?

Das Beispiel von Litauen zeigt das gut. 2019 wurde dort die automatische Anmeldung eingeführt, womit 70 bis 80 Prozent der Menschen in der 2. Säule versichert waren. Dann gab es nationale Wahlen und einen Regierungswechsel. Die Opposition gewann die Wahlen mit dem Versprechen, dem Volk dieses Geld aus den Pensionskassen zu verteilen. Was sie auch taten, sobald sie an die Macht kamen: Die neue Regierung stoppte die obligatorische berufliche Vorsorge und erlaubte den Menschen, ihr Vermögen aus den Pensionskassen zu lösen.

Also wirklich ein schlechtes Beispiel.

Ja, denn es zerstört natürlich, was die Litauer aufgebaut hatten. Litauen hat eine der schlechtesten Prognosen überhaupt, was den Altersquotient in Europa angeht. Dass sie den kapitalgedeckten Teil erfolgreich aufgebaut hatten, war sehr wichtig für die Menschen in Litauen. Aber aus kurzfristigem politischem Nutzen wurde dies geopfert und hat die guten Aussichten zerstört. Nun wird es in Zukunft viel grössere Probleme geben mit der Angemessenheit der Renteneinkommen.

Steht Litauen allein da?

Leider nein. Ähnliche Prozesse gab es auch in anderen europäischen Ländern wie in Ungarn, wo die Pensionskassen verstaatlicht wurden. In Polen hat die Regierung die Hälfte der Vermögen dazu verwendet, den staatlichen Sozialversicherungsfonds abzusichern. Die Menschen in Polen haben das Vertrauen in Renten verloren. Deshalb spricht man da nicht einmal mehr von Renten. Polen hat ein kapitalgedecktes Sparsystem eingeführt, das aber nicht Pensionskasse genannt ist, weil das in Polen ein Unwort ist. Dies zeigt, dass Verständnis und Vertrauen auf lange Sicht wirklich entscheidend sind.

Also ist die Gefahr real, dass aus politischen Gründen funktionierende Rentensysteme zerstört werden?

Ja. In Litauen hat die Partei an der Macht genau mit diesem Versprechen die Wahlen gewonnen. Indem sie dem Volk versprach, dass es sein Geld zurĂĽckkriege. Europäische und internationale Institutionen sollten ihre Mitgliederstaaten wirklich stark darin unterstĂĽtzen, diese Systeme nicht zu demontieren. Die europäische Governance-Richtlinie mit spezifischen Empfehlungen fĂĽr Länder kann dabei helfen. Aber am Ende liegt es in der Kompetenz des Mitgliedstaats. Wenn die Regierung von Litauen entscheidet, ihr Pensionssystem aufzulösen, kann niemand sie legal aufhalten. Aber im Euroraum wird dies ĂĽber kurz oder lang zum Problem von allen werden. Das haben wir in der Eurokrise gesehen. Es spielt keine Rolle, ob dies in einem anderen Land passiert. Wenn Sie im gleichen Wirtschaftssystem sind, wird es auch Ihr Problem sein. 

Wenn die Regierung von Litauen entscheidet, ihr Pensionssystem aufzulösen, kann niemand sie legal aufhalten. Aber im Euroraum wird dies über kurz oder lang zum Problem von allen werden.

Wie ordnen Sie das Schweizer System ein, das nicht sehr reformfähig ist?

Die Schweizer System zählt zu den stärksten auf der Welt, zusammen mit dem holländischen und denjenigen der nordischen Länder. Dadurch, dass in der Schweiz so viel durch Volksabstimmungen entschieden wird, sind Reformen sicher schwieriger zu bewerkstelligen. Das macht das Schweizer System aber auch stabiler. Eine verstaatlichte Volkspension ist in der Schweiz undenkbar. Natürlich sehe ich auch die Herausforderung der Finanzierung mit dem Ausbau in der 1. Säule, aber die scheint mir lösbar. Zweitens ist die finanzielle Situation der Pensionskassen im Moment sehr gut. Es gibt keine Finanzierungskrise in der Schweiz, auch nicht in der näheren Zukunft. Weiter beobachte ich in Europa wie in der Schweiz die Diskussion um die Rolle der 3. Säule, des privaten Sparens. Überall ist die 3. Säule noch sehr klein, verglichen mit der 2. Aber die Kosten sind auch sehr unterschiedlich. Der obligatorische Teil der 2. Säule in der Schweiz ist ein Schlüsselaspekt, der das robuste System ausmacht.

Welche anderen Schutzfaktoren gibt es?

Die Sozialpartner sind Garanten für die Basis der 2. Säule, in Europa wie in der Schweiz. Das macht den Erfolg aus und ist eine besondere Herausforderung für Länder, wo es keine gute Sozialpartnerschaft gibt. In den Niederlanden sehen wir eine Bewegung von «Defined Benefit» hin zu «Defined Contribution», es geht also um einen Risikotransfer hin zu den Versicherten. Fast alle Länder in Osteuropa haben nur «Defined Contribution»-Pläne. Das macht es für sie schwieriger, gute Resultate und Sparprozesse zu erreichen. Die Schweiz hat mit ihrem Obligatorium zudem einen Vorteil im Vergleich zu vielen europäischen Ländern, die hauptsächlich ein freiwilliges System haben.

Sie kennen das historische Beispiel der Reformen in Finnland sehr gut, wo Sie direkt involviert waren. Wie sehen Sie diese Reform aus heutiger Sicht?

Finnland begann in den frühen 1990er-Jahren mit der Reform. Entscheidend für den Erfolg war, dass dies nicht in der Öffentlichkeit geschah, sondern in einer sehr dauerhaften Arbeitsgruppe der Sozialpartner. Dort konnten die Pensionskassen ihr Knowhow direkt einbringen, mit Berechnungen und Projektionen. In der Öffentlichkeit wurde über die ersten Reformschritte kaum debattiert. Im Jahr 2005 gelang noch eine grössere Reform, als das Rentenalter abgeschafft wurde. Finnland ging zu einem flexiblen Rentenalter über, das automatisch an die Lebenserwartung angepasst wird, mit einem Mechanismus, wie ihn viele andere Länder in Europa kennen. Die Lebenserwartung jeder Kohorte wird verfolgt, das Rentenalter entsprechend erhöht. All dies hat das System nachhaltiger gemacht.

Zur Person

Matti Leppälä ist Generalsekretär von «Pensions Europe», des Dachverbands der Europäischen Pensionskassen. Pensions Europe vertritt 25 europäische nationale Pensionsfondsverbände, die über 100 Millionen Europäer und ein Vermögen von 7 Billionen Euro abdecken. Leppälä ist Mitglied und war von 2013 bis 2018 Vorsitzender und stellvertretender Vorsitzender der Interessengruppe für betriebliche Altersversorgung der EU-Aufsichtsbehörde EIOPA.

Der erste Teil dieses Interviews wurde in der gedruckten Dezemberausgabe der "Schweizer Personalvorsorge" publiziert. 

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Matti Leppälä ist Generalsekretär von «Pensions Europe», des Dachverbands der Europäischen Pensionskassen. (Photo: HUGO AMARAL/ECO)

Was bleibt zu tun?

In Finnland gab es erfolgreiche Programme, um die Menschen länger im Arbeitsprozess zu halten. Das ist etwas, das in ganz Europa gemacht werden sollte: die Menschen befähigen, länger im Erwerbsleben zu bleiben. Finnland hat das Rentenalter von einst 60 auf derzeit durchschnittlich 62.4 Jahre erhöht. Das ist bemerkenswert, aber immer noch nicht genug. In jüngster Zeit gab es auch in Finnland einen erhöhten Druck auf die Sozialpartner für weitergehende Reformen. Vor allem in Bezug auf die Risiken. Die Sozialpartner willigten ein, die Limiten für Investitionsrisiken zu erhöhen, obwohl diese im finnischen System schon relativ hoch sind.

Sehen Sie andere Wege?

Es gibt bekanntlich nur drei Möglichkeiten, die Finanzierung der Renten zu verbessern: mehr Beiträge, höheres Rentenalter oder Renten kürzen. Rentenkürzungen sind politisch über alle Parteien nicht auf dem Tisch, auch weil die Rentnerinnen und Rentner in Finnland einen guten Teil der Bevölkerung ausmachen.

Läuft es auf einen Generationenkonflikt hinaus?

Ja, wenn die Lebenserwartung weiter ansteigt, ist es für meine Generation und die älteren Rentner einfacher, die Leistungen der jüngeren Generationen zu kürzen. In Finnland achtet die jüngere Generation aber nicht auf diese Gefahr. In anderen Ländern sehen wir viel stärker, dass sich die jüngeren Leute dagegen wehrt, bis 70 oder 75 zu arbeiten, während die Alten mit so guten Leistungen in Pension gegangen sind.

Wie vergleichen Sie die Stärke eines Vorsorgesystems?

In einem grösseren sozialpolitischen Blickwinkel ist die Solidarität ein Schlüsselbegriff. In Finnland ist das System gut finanziert. Wenn man die 1. und die 2. Säule zusammenzählt, fast mit 100% des Bruttosozialprodukts. Es kommt aber auf den Anteil von «Pay-as-you-go» an. Je mehr Anteil das Umlageverfahren hat, desto einfacher kann man das System für alle anpassen. Dies ist ein Vorteil des finnischen Systems, was die Reformfähigkeit betrifft. Es ist flexibler.

Was halten Sie von den Rankings der Systeme, etwa dem Mercer Index?

Sie sind interessant in vielerlei Hinsicht und gut gemacht. Solche Rankings geben einen Ăśberblick. Die Rangliste ist dabei weniger wichtig als die Analyse mit den Kriterien, die bewertet werden. Dass sie in den Medien benutzt werden, um die eigenen Pensionssysteme zu promoten, ist auch in Ordnung. Aber man sollte diese Ergebnisse nie fĂĽr bare MĂĽnze nehmen. Wichtiger ist, wie gut ein System in der Gesellschaft verankert ist.